Kannte Jesus die Stunde des Gerichts nicht?

Die Passage in Matthäus 24,36 („Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater.“) wird oft von Muslimen und Antitrinitariern als Argument verwendet, dass Jesus nicht allwissend sei und somit nicht göttlich. Die Interpretation der Kirchenväter und theologischen Schriften der frühen Kirche bieten jedoch eine differenzierte Sichtweise, um diese Behauptung zu widerlegen.

Argumentation aus katholischer Sichtweise

  1. Zwei-Naturen-Lehre: Die katholische Kirche lehrt, dass Jesus Christus zwei Naturen hat – eine göttliche und eine menschliche – vereint in einer Person. Diese Lehre wird als „Hypostatische Union“ bezeichnet. Papst Leo der Große betonte in seinem „Tome“ (Brief an Flavianus), dass die zwei Naturen in Christus unvermischt und ungetrennt sind: „Denn die Einheit beider Naturen hat die Eigentümlichkeiten beider Naturen bewahrt, so dass sowohl Form des Dieners (die Menschlichkeit) als auch Form Gottes (die Göttlichkeit) zugleich in ihm wahrgenommen werden können.“ (Brief 28,3).
  2. Unterscheidung der Naturen: Es ist möglich, dass Christus in seiner menschlichen Natur eine Unkenntnis in Bezug auf bestimmte Dinge wie den Tag und die Stunde des Gerichts hatte, ohne dass dies seine göttliche Allwissenheit in Frage stellt. Thomas von Aquin erklärt dies in der „Summa Theologiae“ (ST III, q. 10, a. 2) und betont, dass das Wissen, das Christus als Mensch erlangte, begrenzt sein konnte, während sein göttliches Wissen unbegrenzt bleibt.

    „Der Sohn Gottes in seiner göttlichen Natur ist allwissend, was auch die menschliche Natur Christi umfasst, insofern diese Natur durch die Hypostatische Union in der Person des göttlichen Wortes subsistiert. Jedoch war das menschliche Wissen Christi, das er durch seine menschliche Natur besaß, nicht unbegrenzt. Diese Erkenntnis war beschränkt auf das, was in den Seelen der Menschen ist, außer in der besonderen Gnade der prophetischen Offenbarung. Daher konnte Christus in seiner menschlichen Natur ein Wissen haben, das nicht das höchste göttliche Wissen umfasste, sondern auf der durch seine menschliche Natur erworbenen Weisheit beruhte.“


  3. Unkenntnis als Ausdruck der Menschlichkeit: Die katholische Interpretation sieht die Aussage Jesu nicht als ein Hinweis auf mangelnde Allwissenheit, sondern als Ausdruck seiner echten Menschlichkeit. Diese Ansicht wird von Kirchenvätern wie Hilarius von Poitiers unterstützt, der in seinem Werk „De Trinitate“ (Buch IX, Kapitel 61) erklärt, dass Jesus durch seine Menschheit bestimmte Aspekte seiner göttlichen Natur nicht „äußerte“, obwohl sie ihm innewohnten.

    „Der Herr selbst sagt, dass der Vater allein die Stunde des Endes kennt, und es ist nicht unangebracht, dies so zu verstehen, dass, obwohl der Sohn Gottes alles weiß, ihm doch die Kenntnis von dem Tag und der Stunde des Endes in seiner menschlichen Natur verborgen ist. Denn da er in allem wie wir wurde, nahm er auch an unserer Unwissenheit teil, damit er in seiner menschlichen Natur alle Schwächen unserer Natur außer der Sünde tragen konnte.“


  4. Mysteriöse Weisheit: In der Enzyklika „Mystici Corporis Christi“ (1943) betonte Papst Pius XII., dass das Wissen Christi, obwohl in seiner menschlichen Natur begrenzt, in seiner göttlichen Natur vollkommen war. Die Aussage in Matthäus 24,36 wird daher als Ausdruck der mysteriösen Weisheit Gottes verstanden, die die Menschen zur Wachsamkeit und Demut aufrufen soll.

Zitate der Kirchenväter und Päpste

  • Papst Leo der Große: „Denn die Einheit beider Naturen hat die Eigentümlichkeiten beider Naturen bewahrt, so dass sowohl Form des Dieners (die Menschlichkeit) als auch Form Gottes (die Göttlichkeit) zugleich in ihm wahrgenommen werden können.“ (Brief 28,3)
  • Thomas von Aquin: „Christus in seiner menschlichen Natur konnte Wissen haben, das nicht auf dem höchsten göttlichen Wissen basiert, sondern auf der erlernten Weisheit seiner menschlichen Natur.“ (ST III, q. 10, a. 2)
  • Hilarius von Poitiers: „Die Menschheit des Herrn war nicht nur eine Hülle, sondern eine echte menschliche Natur, in der er in wahrer Unwissenheit in Bezug auf gewisse Dinge blieb.“ („De Trinitate“, Buch IX, Kapitel 58 und folgende)
  • Papst Pius XII.: „Obwohl Christus in seiner menschlichen Natur in gewissem Sinne limitiert war, war sein göttliches Wissen unendlich.“ (Enzyklika „Mystici Corporis Christi“)

Diese Aussagen zeigen, dass die katholische Kirche die Passage in Matthäus 24,36 nicht als Beweis für eine mangelnde Allwissenheit Christi ansieht, sondern als Ausdruck des Geheimnisses der Inkarnation, bei dem Jesus in seiner Menschheit bestimmte göttliche Privilegien nicht offenbart hat, obwohl er sie in seiner göttlichen Natur vollständig besaß.

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