Nach den Lehren des hl. Alfons Maria von Liguori
Geistliche Lesung
Es gibt im geistlichen Leben Übungen, die auf den ersten Blick schlicht erscheinen, in Wirklichkeit aber von unschätzbarem Wert für das Heil der Seele sind. Eine dieser Übungen ist die tägliche geistliche Lesung. Der heilige Alfons Maria von Liguori, Kirchenlehrer und eifriger Seelenführer, nennt sie „vielleicht nicht minder nützlich als die Betrachtung“. Sie ist nicht bloß eine fromme Beschäftigung, sondern eine Waffe im Kampf gegen die Versuchungen, ein Licht auf unserem Weg und eine unerschöpfliche Quelle der Heiligung.
1. Geistliche Lesung – Gottes Stimme im Alltag
Alfons erklärt: Während wir im Gebet zu Gott sprechen, spricht Gott in der geistlichen Lesung zu uns. Gute Bücher sind gleichsam Briefe, die der Herr Seinen Kindern sendet, um sie zu ermutigen, zu ermahnen, zu trösten und zu belehren. Darum befiehlt der Apostel Paulus dem jungen Bischof Timotheus ausdrücklich: „Befleiße dich der Lesung“ (1 Tim 4,13). Dieser Auftrag gilt jedem Christen, ob Priester, Ordensmann oder Laie.
Die geistliche Lesung ist nach Liguori keine Nebensache. Sie ist für ihn eine regelmäßige Pflicht. Schon die großen Ordensgründer haben ihre Jünger streng zur täglichen Lesung angehalten. Der hl. Benedikt etwa ließ überwachen, ob jeder Mönch dieser Übung nachkam – wer nachlässig war, wurde ermahnt oder sogar bestraft. Denn sie wussten: Wer die Stimme Gottes durch die Schriften täglich hört, wird auf dem schmalen Weg nicht so leicht in die Irre gehen.
2. Gefahr schlechter und nutzloser Bücher
So nützlich die Lesung heiliger Bücher ist, so verhängnisvoll ist der Umgang mit schlechten Schriften. Liguori spricht mit ernster Klarheit: Der erste Verfasser guter Bücher ist der Heilige Geist; der Urheber schlechter Bücher ist der Geist des Satans. Unter „schlechten Büchern“ versteht er nicht nur ketzerische oder offen unsittliche Werke, sondern auch weltliche Romane, frivole Gedichte und alles, was Herz und Sinn von Gott abzieht. Selbst wenn sie keine offenbare Sünde enthalten, wecken sie Leidenschaften, nähren die Eigenliebe, schwächen den Willen und bereiten den Boden für die nächste Versuchung.
Er warnt auch vor Büchern, die zwar nicht sündhaft, aber nutzlos sind. Sie füllen das Herz mit Eitelkeit und nehmen Zeit, die man für den Erwerb der Tugenden verwenden sollte. Liguori erzählt die warnende Vision des hl. Hieronymus, der vom Herrn selbst getadelt wurde, weil er lieber heidnische Klassiker las als die Heilige Schrift. Der Heilige lernte daraus, sich ausschließlich der Lesung heiliger Schriften zu widmen, in denen man „lauter Gold ohne Kot“ findet.
Auch geistliche Literatur kann schaden, wenn sie nicht dem eigenen Stand und Weg entspricht. Bücher über außergewöhnliche mystische Erfahrungen etwa können in unreifen Seelen Neugier wecken, die vom schlichten, sicheren Weg der Tugend ablenkt. Die hl. Theresia von Avila selbst warnte nach ihrem Tod davor, ihre Schriften über Entrückungen unbedacht zu verbreiten, da sie nicht durch Verzückungen, sondern durch die treue Übung der Tugend heilig wurde.
3. Der große Nutzen heiliger Lesung
Wie schlechte Lektüre den Geist verdirbt, so erfüllt gute Lektüre den Geist mit heiligen Gedanken. Sie gibt der Seele Bilder, Beispiele und Wahrheiten, die im Gebet nachklingen und zu heiligen Entschlüssen führen. Alfons vergleicht dies mit einer Mühle: Sie mahlt nur das, was man hineingibt. Wer sein Inneres mit Eitelkeiten füllt, wird auch beim Gebet zerstreut sein; wer sich von heiligen Gedanken nährt, wird auch außerhalb des Gebets von ihnen durchdrungen.
Die geistliche Lesung stärkt auch gegen Versuchungen. Der hl. Hieronymus rät: „Habe stets ein heiliges Buch in der Hand, um die Pfeile böser Gedanken abzuwehren.“ Sie wirkt wie ein Spiegel, der uns die Flecken unserer Seele zeigt. Gute Bücher offenbaren unsere Fehler, lehren uns Demut, ermutigen zur Besserung. Sie ersetzen in gewisser Weise die Predigt und den Rat des Beichtvaters, wenn diese nicht zur Hand sind.
Der hl. Augustinus nennt gute Bücher „Liebesbriefe Gottes“, die uns den Weg des Heiles zeigen, vor Gefahren warnen, zur Geduld ermahnen und die Liebe zu Gott entflammen.
4. Bekehrungen durch ein einziges Buch
Die Geschichte der Kirche ist reich an Beispielen, wie eine einzige zufällige geistliche Lesung ein Leben völlig verändert hat. Der hl. Augustinus wurde durch die Lesung eines Paulusbriefes aus seinem sündhaften Leben herausgerissen. Der hl. Ignatius von Loyola, als Soldat verwundet, griff aus Langeweile zu einem Leben der Heiligen – und begann den Weg, der ihn zum Gründer der Gesellschaft Jesu machte. Ähnlich bekehrten sich der hl. Johannes Colombini und zwei Hofbeamte Kaiser Theodosius’ durch die Lesung von Heiligenleben.
Diese Gnade beschränkt sich nicht auf die Vergangenheit. Liguori berichtet von einer Wiener Dame, die, weil ein Fest ausfiel, ein geistliches Buch zur Hand nahm, darin von der Verachtung der Welt las – und noch am selben Tag beschloss, ins Karmelkloster einzutreten.
5. Nahrung für das ganze Leben
Die geistliche Lesung ist nicht nur für Bekehrungen wichtig, sondern auch für die Erhaltung des Eifers und das Wachstum in der Vollkommenheit. Heilige wie Dominikus, Thomas von Kempen, Philipp Neri oder die Wüstenväter schöpften daraus täglich neue Kraft. Sie hielten ihre geistlichen Bücher wie einen Schatz, aus dem sie Milch, Trost und Licht schöpften.
Darum rät Alfons, vor allem jene Bücher zu wählen, die das Herz zu Gott erheben, die Andacht fördern und leicht verständlich sind. Besonders empfiehlt er das Leben der Heiligen, vor allem jener, deren Stand oder Tugenden uns als Vorbild dienen können. Das Beispiel der Heiligen macht demütig und nimmt uns jede Ausrede – denn sie waren Menschen „von gleichem Fleisch und Blut“ wie wir, die Gott aber Großes tun ließ.
6. Regeln für die fruchtbare Lesung
Damit die Lesung wirklich Frucht bringt, gibt Liguori klare Regeln:
1. Beginne mit Gebet – bitte Gott um Erleuchtung und Bereitschaft, Seinen Willen zu erfüllen: „Rede, Herr, dein Knecht hört.“
2. Lies nicht aus Neugier, sondern um in der Liebe zu Gott zu wachsen.
Neugierige Leser verschlingen Seiten, ohne Nutzen daraus zu ziehen.
3. Lies langsam und mit Bedacht. Wie Speise nur dann nährt, wenn sie gekaut wird, so nährt geistliche Lektüre nur, wenn sie bedacht wird.
4. Verweile bei dem, was dich besonders anspricht. Wiederhole solche Stellen, bete darüber, fasse Vorsätze.
5. Schließe mit einem Merksatz oder geistlichen Gedanken, den du wie eine Blume aus dem Garten der Lesung mit in den Tag nimmst.
Schluss – Das stille Gespräch mit Gott
Für Alfons ist die geistliche Lesung nicht bloß das Studium frommer Texte, sondern ein vertrautes Gespräch mit Gott. In ihr hören wir Seine Stimme, lernen Ihn besser kennen, empfangen Ermutigung, Trost und Ermahnung. Sie ist ein Schutzwall gegen die Welt und ein Tor zum Himmel.
Möge jeder Christ dieser Übung täglich einen festen Platz einräumen. Denn wer sich von den „himmlischen Briefen“ Gottes nähren lässt, wird gestärkt, erleuchtet und entflammt – und findet im Alltag den Weg zur Heiligkeit.